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Korrekturen der Wirklichkeit | Eröffnungsrede
von Anne-Kathrin Segler am 18.08.2023, anlässlich der Ausstellungseröffnung
Lieber Thomas, liebe Frau Hoferer, liebe Frau Sichling und liebe Kunstfreunde,
die Werke der beiden Künstlerinnen Daniela Hoferer und Su-Ran Sichling nehmen ihren Ausgangspunkt in der Reflexion von persönlich Erlebtem, Gesehenem und biografischen Verhältnissen, die schnell über sich hinaus auf allgemeine Zusammenhänge und Kontexte verweisen. Die hier versammelten Arbeiten von Su-Ran Sichling verhandeln Fragen von Nähe und Distanz in der Beschäftigung mit post-migrantischen Identitäten in der deutschen Gesellschaft.
In den Textilarbeiten von Daniela Hoferer finden sich wiederum gesammelte Bilder von Reisen und aus ihrem Alltag sowie Motive aus verschiedenen Kulturen, die ihre eigene Auseinandersetzung mit dem nur scheinbar Fremden spiegeln.
Die beiden Künstlerinnen kennen sich seit 20 Jahren, haben zusammen an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden studiert und sich immer wieder eng über ihre Arbeiten ausgetauscht. Hier im Kunstverein sind nun zum ersten Mal ihre Werke gemeinsam ausgestellt.
In diesem neben- und miteinander scheint als Thema das Phänomen der Grenze besonders auf. Dabei sind es nicht nur geografische Grenzen, die in den Sinn kommen. Es sind vor allem die Grenzen von Kategorien und Klassifikationen, die hier in Blick geraten, darunter von sozialen Konstruktionen wie „Kultur“, „Identität“ und „Nation“. Sie erscheinen oft als statisch, homogen und in sich abgeschlossen. Mit ihren Arbeiten regen Daniela Hoferer und Su-Ran Sichling in Bezug darauf zu einem Perspektivwechsel an. Sie zeigen Verflechtungen auf und verweisen auf Prozesse der Aneignung und Abgrenzung, verbunden mit der Frage, wie die Interaktion von Kulturen auf die Beteiligten zurückwirkt und eine Rückbindung an lokale Strukturen erfolgt.
Am offensichtlichsten beschäftigt sich die Arbeit „Schwarz Rot Gold“ von Su-Ran Sichling mit dem Thema der Nation und Grenze. Es handelt sich bei dem Werk um vier Fahnenstangen, welche die Künstlerin aus Kupfer, Messing und schwarzem Gummi geformt hat, wobei der Gummi deutlich verläuft. Es wird das Bild der deutschen Nation aufgerufen, in die neue Einflüsse von außen einfließen, wodurch sich bestehende scharfe Abgrenzungen aufzulösen beginnen.
Auch die lackierten Zäune, von denen wir hier neben einem stehen, zählen zum Oeuvre von Sichling. Zäune werden hinlänglich als eine Barriere und Abgrenzung wahrgenommen. Als Installation an der Wand verlieren sie jedoch diese originäre Funktion. Vielmehr stehen nun die Verzierungen und ihre verschiedenen Muster im Mittelpunkt. Der Zaun findet sich so als Ready-Made zum Kunstwerk umgewidmet, wobei die schmiedeisernen Formen zum Blickfang werden.
Der Verweis auf eine Grenze bleibt dabei dennoch nicht fern. Wieder kommt eine Klassifikation in den Sinn. Denn handelt es sich bei den Zäunen nun um Kunst oder werden hier Handwerk und Design präsentiert? Mit der Zuordnung in die eine oder andere Kategorie verbindet sich hinlänglich eine Hierarchisierung und davon abhängig eine bestimmte Wertvorstellung.
Der Zaun taucht als Teil einer Arbeit von Su-Ran Sichling auch im letzten Raum auf. Dort findet er sich von innen nach außen durchdrungen von einem Tuch, das das typische gesprenkelte Muster eines Terrazzo Belags aufgreift. Zaun und Tuch an der Wand stehen in Verbindung mit Terrazzofließen am Boden, in die Sichling die abstrahierten Formen von vier Blüten eingearbeitet hat. Die Blumen Tulpe, Jasmin, Lotus und Hibiskus sind die Symbole der vier Nationen Türkei, Tunesien, Vietnam und Korea, aus denen in den 1960er und 1970er-Jahren viele Gastarbeitende nach Deutschland einwanderten. Nicht nur die Blumen, auch das Material-Terrazzo-wird in der Arbeit als Sinnbild eingesetzt. Es steht für den Wiederaufbau in
Nachkriegsdeutschland, wo es in vielen Treppenhäusern Verwendung fand und auch von den ausländischen Arbeitskräften verlegt wurde. Die Migrantinnen und Migranten sind bildhaft über die Blumen in die Terazzofließen und darüber hinaus in die deutsche Geschichte eingeschrieben, wobei bis heute ihr wahrgenommener Anteil an dieser Geschichte und ihre Einbindung in die deutsche Gesellschaft nicht als gleichwertig beschrieben werden kann. Mit diesem Werk möchte Su-Ran Sichling darüber zum Nachdenken anregen.
Die Arbeiten von Daniela Hoferer verwehren wie jene von Su-Ran Sichling eine genaue Einordnung in kunsthistorische Kategorien. Als textile Arbeiten, deren Motive in der Technik des Stickens ausgeführt sind, würde man sie klassisch dem Handwerk zurechnen. In ihrer Betrachtung entsteht jedoch der Eindruck, dass Daniela Hoferer mit den Fäden malt und die Entstehung ihrer Werke mit der Genese von nur langsam trocknenden und sich Schicht um Schicht aufbauenden Ölgemälden verglichen werden kann. Auch ihr Format folgt eher dem von Gemälden verglichen beispielsweise mit größeren Tapisserien. In dem von Hoferer bewusst gewählten zeitintensiven Arbeitsprozess steckt zugleich ein performativer Charakter. Meist steht am Anfang ein einzelnes Motiv, dem sich erst im Arbeiten weitere anschließen, ohne dass Hoferer einer im Vorhinein genau ausgearbeiteten Bildidee folgt. Es ist ihr wichtig, so lange wie möglich Veränderungen vornehmen zu können. Das langsame Sticken bietet ihr die Möglichkeit, Gedanken zu ordnen, die aufgenommen Themen zu durchdenken und darin eine eigene Haltung zu ihnen zu entwickeln. Die handwerkliche Arbeit dient gemeinhin nicht nur der Erstellung eines Kunstwerks, sondern auch einem Erkenntnisprozess.
Hier im ersten Raum stehen wir vor einer aktuellen Arbeit von Daniela Hoferer aus diesem Jahr, die den Titel „Flut“ trägt. An dem Werk lassen sich viele der Merkmale ihrer Kunst ablesen. Für ihre Arbeiten ist kennzeichnend, dass sie Motive aus unterschiedlichen Zusammenhängen, Themenfeldern, auch Kulturen und Zeiträumen zusammenbringen. Hier zum Beispiel erscheinen Dante und Vergil aus der „Göttlichen Kömodie“ zusammen mit einem Strom von neuzeitlichen Touristen, die sich an einer Hausruine entlang schlängeln, die selbst in einem knorrigen Baum schaukelt. Viele der Touristen nehmen die Szene dabei nur durch ihr Handy vermittelt wahr. Neben hochaufragenden Flammen im Mittelgrund erscheinen zudem popkulturelle Bilder, wie sie sich als Graffitis auf Wänden in Großstädten finden. Das Werk verbindet damit Elemente aus der Hoch- und Alltagskultur sowie Anspielungen auf die mediale Bilderflut und fortdauernde Katastrophen.
Den Stickereien ist zudem das Moment eigen, dass sich die Motive nicht, wie man es gewohnt ist, zu einer Erzählung verbinden. Vielmehr geht es Daniela Hoferer darum, eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen und zu vermitteln. Sie schöpft dabei aus einem Fundus von Bildern, die genauso aus der Kunstgeschichte wie aus eigenen Fotografien stammen, wobei sie oft Motive fotografiert, die aus ihrem vorgefundenen Zusammenhang herauszufallen scheinen. So verhält es sich beispielsweise mit den abgebrochenen und gespaltenen Baumstümpfen in der Arbeit „Mittsommer“. „Mittsommer“ führt zugleich zu einem weiteren Aspekt, der sich unübersehbar durch eine Vielzahl ihrer Bildkreationen zieht – nämlich eine Faszination für unterschiedliche kulturelle Rituale, kultische Objekte sowie religiöse Sinnbilder. In dem Werk „Tanzfuchs“ treffen etwa anthropomorphe Fuchsfiguren aus dem japanischen Volksglauben auf einen Schamanen sowie einen Totempfahl, in mehreren Werken finden sich zudem Skelette als Symbol der Vergänglichkeit. Daniela Hoferer ist im Schwarzwald aufgewachsen und war in einer Trachtengruppe aktiv, wobei sie selbst beschreibt, dass sie sich in dieser Tradition eher fremd gefühlt hat. Dasselbe Fremdheitsempfinden kam 2016 während eines mehrmonatigen Aufenthalts in Japan erneut auf. Hoferer sammelt solche Eindrücke und bettet sie wie die Figuren ihn ihre surrealen Bildwelten ein.
Auf formaler Ebene schaffen Muster, Architekturen und Landschaften Verbindungen zwischen den disparaten Motiven. Sie füllen Flächen, vermitteln Räumlichkeit und Perspektive und teilen die Darstellungen in Vorder-, Mittel- und Hintergrund.
Durch die Überlagerung von Fäden, aber auch von einzelnen Motiven ergeben sich zudem dreidimensionale Effekte, die je Blickwinkel durch ein Changieren der Stoffe betont werden.
Die orientalischen, japanischen und europäischen Ornamente bieten Daniela Hoferer in ihrer quasi meditativen Wiederholung zudem einen Weg im Handeln zu bleiben, während sie sich Gedanken über den Fortgang der Bildidee macht.
Zwei Arbeiten im hinteren Bereich der Ausstellung spannen schließlich die Brücke zum Titel der Schau „Korrekturen der Wirklichkeit“. Die Künstlerinnen beziehen die angesprochenen Korrekturen auf den Wunsch, dass ein wertschätzendes, kulturübergreifendes Miteinander Realität wird, das Grenzen überwindet. Dass es vielfache Anknüpfungspunkte und Schnittstellen gibt, vermittelt nicht zuletzt das Werk „Inner Circle“ von Daniela Hoferer. Alle Bildakteure tragen darin ein Strohkostüm, was auf der Erkenntnis beruht, dass es auf jedem Kontinent Kulturen gibt, in den zeremonielle Kleidungsstücke aus Stroh für Feste und Riten gefertigt und genutzt werden. Den Abschluss repräsentiert im letzten Raum schließlich eine Arbeit von Su-Ran Sichling, in der sie verschiedene an die Wand angelehnte Werkzeuge und Sägeblätter aus Keramik kombiniert. Damit wird noch einmal an traditionelle handwerkliche Arbeit erinnert, die über Generationen und Kulturen hinweg eine verbindende Funktion ausüben kann.